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Digitale Zwillinge fürs Netzwerk: Vorteile und Probleme
Netzwerktechniker können digitale Zwillinge für Design, Tests, Sicherheit und Wartung nutzen. Doch unter anderem fehlende Standards stehen einer breiteren Einführung noch im Wege.
Wenn Sie nicht gerade hinter dem Mond leben, haben Sie wahrscheinlich schon von digitalen Zwillingen gehört. Dabei handelt es sich um virtuelle Darstellungen physischer Objekte.
Digitale Zwillinge finden in zahlreichen Branchen Anwendung, unter anderem in der Fertigung, im Gesundheitswesen, Automobilsektor und sogar im Networking.
Der gängigste Anwendungsfall ist die Fertigung. Hier besteht das Endziel darin, die Funktionalität von Objekten zu überprüfen, bevor man Zeit, Aufwand und Kosten für ihre physische Herstellung investiert. In diesem Anwendungsfall könnte ein Komponentenhersteller einen digitalen Zwilling einer seiner Komponenten, zum Beispiel eines Bolzens, erstellen und ihn einem Systemhersteller, etwa einem Motorenhersteller, zur Verfügung stellen. Der Motorenhersteller kann den virtuellen Bolzen in einen virtuellen Motor einbauen und testen, ob er den Spezifikationen entspricht und eine optimale Leistung bietet.
Das ist großartig, aber welche Bedeutung hat das für Netzwerktechniker und Leute, die sich mit Netzwerkmanagement und Netzwerkautomatisierung beschäftigen? Eine ganze Menge, wie sich herausstellt.
Digitale Zwillinge von Netzwerken zu erstellen und zu überwachen, kann in allen Phasen des Lebenszyklus von Netzwerken hilfreich sein, vom Design bis zum End of Life. Folgend erfahren Sie, wie und wo Netzwerkteams digitale Zwillinge für die von ihnen geplanten und verwalteten Netzwerken einsetzen können – und wo einige der Hindernisse und Stolpersteine liegen.
Zwillinge versus Modelle
Zunächst muss man zwischen digitalen Zwillingen und einfachen Modellen oder Simulationen unterscheiden. Digitale Zwillinge unterscheiden sich vor allem dadurch, dass sie bis zu einem gewissen Grad mit Echtzeitdaten aktualisiert werden. Während also ein Modell oder eine Simulation ausschließlich basierend auf den jeweiligen Ausgangsbedingungen arbeitet, kann ein digitaler Zwilling Echtzeitdaten von seinem realen Gegenstück einbeziehen.
Arten von digitalen Zwillingen
Für digitale Zwillinge gibt es keine standardisierten Kategorien. Viele Anbieter und andere Branchenakteure haben jedoch vier Haupttypen von digitalen Zwillingen festgelegt.
1. Komponentenzwillinge
Komponentenzwillinge sind Instanziierungen einzelner Komponenten, wie des Bolzens im oben genannten Beispiel. Diese Zwillinge enthalten detaillierte Informationen über die Performance und das Verhalten der Komponenten. In einer Netzwerkumgebung kann es sich bei den Komponenten um einzelne Mainboards oder Stromversorgungen handeln.
2. Asset-Zwillinge
Asset-Zwillinge sind Instanziierungen von physischen Assets, beispielsweise Gebäuden, Lastwagen oder anderen Fahrzeugen beziehungsweise Maschinen. Diese Zwillinge enthalten Betriebsstatus, Leistungsdaten und Umgebungsbedingungen. In einer Netzwerkumgebung kann es sich bei Asset-Zwillingen um Router oder Switches handeln.
3. Systemzwillinge
Systemzwillinge bestehen aus Gruppen von Asset-Zwillingen, die auf Systemebene zusammenarbeiten. Wie der Name schon sagt, verwendet man Systemzwillinge, um herauszufinden, wie Komponenten und Assets interagieren. In einer Netzwerkumgebung gehören Netzwerke wie WANs, LANs oder andere Netzwerksegmente zu den Systemzwillingen.
4. Prozesszwillinge
Prozesszwillinge fassen Systemzwillinge zu komplexen Prozessen oder Workflows zusammen. Mithilfe von Prozesszwillingen können Techniker Was-wäre-wenn-Szenarien durchspielen, indem sie die Eingangsparameter verändern, um zu sehen, wie sich dies auswirkt. In einer Netzwerkumgebung umfassen Prozesszwillinge Routing-Protokolle und die Gesamt-Performance des Netzwerks.
Anwendungsfälle für digitale Zwillinge im Netzwerk
Anhand dieser Typen lässt sich leicht erkennen, wie digitale Zwillinge über den gesamten Lebenszyklus eines Netzwerks hinweg eingesetzt werden können, von der Architektur über das Design bis zum End of Life.
Netzwerkarchitektur und -design
Ein klarer Anwendungsfall für digitale Zwillinge betrifft die Architektur und das Design von Netzwerken, und zwar unabhängig davon, ob man ein neues Netzwerk aufbaut oder ein bestehendes anpasst. In dieser Phase digitale Zwillinge zu nutzen, bietet den entscheidenden Vorteil, dass Techniker anhand verschiedener Kriterien optimieren können – zum Beispiel nach der Vorgabe, das kostengünstigste Netzwerk aufzubauen, das die jeweiligen Anforderungen erfüllt.
Wartung und Konfiguration
IT-Teams können digitale Zwillinge nutzen, um die Auswirkungen von Upgrades und Konfigurationsänderungen zu berücksichtigen. Wenn IT-Teams einen Workflow-Schritt implementieren, der das Testen mit dem Zwilling vorsieht, sind sie in der Lage, Fehler aufgrund einer Fehlkonfiguration zu minimieren oder zu eliminieren.
Automatisierung
Es liegt auf der Hand, dass eine Umgebung mit digitalen Zwillingen eine hervorragende Plattform für Automatisierung darstellt. Techniker können Automatisierungsskripte auf dem digitalen Zwilling des Netzwerks testen, bevor sie im Produktionsnetzwerk eingesetzt werden.
Sicherheit
Mit etwas Kreativität können Netzwerktechniker auch die Sicherheit ihrer Netzwerke durch Härten erhöhen. Die Durchführung von Penetrationstests im digitalen Netzwerk und das Testen von Konfigurationsänderungen unter Sicherheitsaspekten sind typische Anwendungsfälle.
Traffic-Modellierung und Kapazitätsplanung
Techniker in Unternehmen wollen oft Dinge wissen wie: Wie wirkt sich der Rollout von Anwendung X auf das Netzwerk aus? oder Was bedeutet der Wechsel zu Cloud-Anbieter Y für meinen Netzwerk-Traffic?. Vor einigen Jahren waren beispielsweise viele IT-Teams besorgt über die Folgen der Umstellung von On-Premises betriebenen E-Mail- und Videokonferenzsystemen auf das Cloud-basierte Microsoft 365 für das Netzwerk. Netzwerk-Twinning bietet eine unkomplizierte Möglichkeit, diese Fragen zu beantworten, bevor Anwendungen produktiv zum Einsatz kommen. Ein weiteres Beispiel ist die Umstellung von Technologien wie MPLS auf Software-defined WAN.
Austausch von Geräten und End of Life von Netzwerken
Netzwerke entwickeln sich ständig weiter. Im Idealfall mustern Teams daher Netzwerkgeräte schrittweise aus und ersetzen sie durch leistungsfähigere Systeme. Per Digital Twinning können Netzwerktechniker die Auswirkungen modellieren, wenn bestimmte Hardware ausrangiert oder die Funktionen verschiedener Geräte in einem einzigen, leistungsfähigeren Gerät kombiniert werden.
Einschränkungen beim Digital Twinning von Netzwerken
Angesichts dieser vielen Vorteile stellt sich natürlich die Frage, warum nicht mehr Netzwerktechniker die Digital-Twinning-Technologie nutzen. Dafür gibt es drei Hauptgründe.
1. Anbieterspezifische Besonderheiten
Die meisten großen Firmen, – unter anderem Cisco, Extreme Networks, HPE und Juniper – bieten digitale Zwillinge ihrer eigenen Produkte an. Diese sind jedoch nicht miteinander interoperabel. Untersuchungen von Nemertes haben ergeben, dass es sich nur bei etwa einem Drittel der Netzwerke um Single-Vendor-Netzwerke handelt. Somit funktioniert Digital Twinning auf Single-Vendor-Basis für den Großteil der Netzwerke nicht.
2. Fehlende Standards
Derzeit gibt es nur eine begrenzte Anzahl von Standards, um Informationen über digitale Zwillinge zu übermitteln, und zwar unabhängig vom Typ. Eine Organisation, die an der Standardisierung arbeitet, ist das Digital Twin Consortium. Es ist jedoch auffällig, dass sich unter den Mitgliedern keine großen Netzwerk-Provider befinden.
3. Fehlende Testlabore
Selbst wenn es Standards und Interoperabilität zwischen den Anbieterumgebungen gäbe, bleibt eine brennende Frage unbeantwortet: Wo können Netzwerktechniker ihre digitalen Zwillinge erstellen und warten? Da diese Tools eine beträchtliche Menge an Rechenleistung erfordern, handelt es sich um eine nicht ganz triviale Frage. Obwohl Cloud-Anbieter wie AWS Labore für digitale Zwillinge aufbauen, ist momentan keines speziell für Netzwerkgeräte und -Tools vorgesehen.
Fazit
Wie lautet also die Quintessenz? Digitale Zwillinge können die Art und Weise revolutionieren, wie Netzwerktechniker ihre Netzwerke über den gesamten Lebenszyklus vom Design bis zum End of Life verwalten, auch im Hinblick auf Automatisierung und Sicherheit. Allerdings stoßen die aktuellen Tools aufgrund fehlender Interoperabilität und einer nicht vorhandenen zentralisierten Cloud-Umgebung an ihre Grenzen. Netzwerktechniker sollten daher digitale Zwillinge von Netzwerken einsetzen, wo immer sie existieren, und eine umfassendere Nutzung anstreben, wenn sich die Technologie weiterentwickelt.