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Kommt die Kehrtwende bei der Vorratsdatenspeicherung?
Bislang scheiterten Vorhaben zur Vorratsdatenspeicherung (VDS) an Vorgaben oberster Gerichte wie dem Europäischen Gerichtshof. Ein neues Urteil eröffnet womöglich Chancen für VDS.
„Die Regelungen über die anlasslose Vorratsdatenspeicherung in Deutschland sind europarechtswidrig“, so das Bundesjustizministerium (BMJ) im April 2024. „Wir werden nun die Möglichkeit einer anlassbezogenen Sicherungsanordnung für Verkehrsdaten („Quick-Freeze-Verfahren“) einführen“.
Beim Quick-Freeze-Verfahren könnten die Ermittlungsbehörden relevante Telekommunikationsdaten („Verkehrsdaten“ wie IP-Adressen oder Telefonnummern) umgehend bei den Providern einfrieren lassen, wenn der Verdacht auf eine Straftat von erheblicher Bedeutung (wie Totschlag oder Mord) besteht, wie das BMJ erklärte. Die damit zusammenhängenden Daten dürften dann vorerst nicht mehr gelöscht werden und auch neu anfallende Daten müssten gesichert werden.
Vor kurzem sah es also so aus, dass Quick Freeze anstelle der seit vielen Jahren umstrittenen Vorratsdatenspeicherung (VDS) in Deutschland kommt. Wenige Wochen später ist es aber nicht mehr so sicher.
Nicht nur aus dem Bundesrat kommen andere Signale als Quick Freeze
Der Innenminister von NRW Herbert Reul erklärte zum Beispiel: „Die neue Kriminalität findet im Netz statt. Ob es Kindermissbrauch, Extremismus oder Cyberkriminalität ist. Wir brauchen ganz andere technische Möglichkeiten und mehr finanzielle Mittel. Und die rechtlichen Rahmenbedingungen, die es möglich machen zu handeln.“ Ein wichtiges Mittel sei die Vorratsdatenspeicherung. „Die Polizei muss vor die Lage kommen“, forderte Herbert Reul. „Das ist nicht gegen Datenschutz, sondern das ist klug mit den Daten umzugehen.“
Auch Hessens Ministerpräsident Boris Rhein warb für Vorratsdatenspeicherung. Das Land Hessen hatte zuvor eine Bundesratsinitiative zur Speicherung von IP-Adressen gestartet.
Ministerpräsident Boris Rhein sagte dazu: „Ohne die von uns beabsichtigte IP-Adressdatenspeicherung (PDF) ist eine Strafverfolgung vor allem von Kinderpornografie, aber auch von Hate Speech sehr oft nicht möglich. Es darf nicht sein, dass Kinderschänder nicht ermittelt werden können, weil digitale Spuren nicht gespeichert oder mit den Sicherheitsbehörden geteilt werden. Der Gedanke daran, wie viele Täter wir nicht fassen können, weil wir keine IP-Adressen speichern dürfen, ist für mich unerträglich. Datenschutz darf kein Täterschutz sein.“
Justizminister Christian Heinz ergänzte: „Die IP-Adressdatenspeicherung ist für die effektive Strafverfolgung von schweren Straftaten und insbesondere die Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern und der Kinderpornografie nicht nur besonders wichtig, sondern absolut unverzichtbar.“
Ende April 2024 hatte dann der Europäische Gerichtshof (EuGH) in seinem Urteil, die anlasslose Speicherung von IP-Adressen auch zur Verfolgung von Urheberrechtsverstößen unter bestimmten Voraussetzungen für zulässig erklärt. Für viele Kommentatoren erschien dies als eine Kehrtwende zur bisherigen Rechtsprechung in Sachen Vorratsdatenspeicherung. So sprach die französische Bürgerrechtsorganisation La Quadrature du Net im Zusammenhang mit dem Urteil von der Möglichkeit der massiven Überwachung des Internets.
Anforderungen an Vorratsdatenspeicherung wurden präzisiert
Der EuGH selbst erklärte, er präzisiere in seinem Urteil die Anforderungen an die Modalitäten der Vorratsspeicherung von Daten und des Zugangs zu ihnen. Die Mitgliedstaaten der EU können demnach den Internetzugangsanbietern mit dem Ziel der Bekämpfung von Straftaten im Allgemeinen eine Pflicht zur allgemeinen und unterschiedslosen Vorratsspeicherung von IP-Adressen auferlegen, sofern eine solche Speicherung keine genauen Schlüsse auf das Privatleben der fraglichen Person zulässt.
Dafür könnten Speichermodalitäten sorgen, die eine wirksame strikte Trennung der IP-Adressen und der übrigen Kategorien personenbezogener Daten, insbesondere der Identitätsdaten, gewährleisten, so das Gericht. Die Mitgliedstaaten könnten zudem unter bestimmten Bedingungen der zuständigen nationalen Behörde Zugang zu den Identitätsdaten gewähren, die IP-Adressen zuzuordnen sind, sofern eine solche, die strikte Trennung der verschiedenen Datenkategorien gewährleistende Vorratsspeicherung sichergestellt worden ist.
Könnten in atypischen Situationen die Besonderheiten des einen solchen Zugang regelnden nationalen Verfahrens es ermöglichen, durch die Verknüpfung der gesammelten Daten und Informationen genaue Schlüsse auf das Privatleben der betreffenden Person zu ziehen, müsse der Zugang zu ihnen einer vorherigen Kontrolle durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsstelle unterworfen werden.
Vorratsdatenspeicherung und Bürgerrechte
Die Internetwirtschaft sieht die Vorratsdatenspeicherung aber weiterhin kritisch. Moderne Technologien sollten nicht dazu missbraucht werden, Bürgerrechte zu verletzen, so der Verband eco. „Wir fordern eine klare und umfassende Aufhebung der Vorratsdatenspeicherung, um die Privatsphäre der Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten“, erklärte Oliver Süme, Vorstandsvorsitzender des eco – Verbands der Internetwirtschaft e. V. eco kritisierte auch den von Hessen präsentierten Gesetzentwurf zur Vorratsdatenspeicherung.
Auch Dr. David Albrecht, Mitglied des Ausschusses Gefahrenabwehrrecht des Deutschen Anwaltvereins (DAV), zeigte sich kritisch: „Für den Schutz der Bürgerrechte im digitalen Raum wäre es fatal, eine Vorratsdatenspeicherung zum Zwecke der Verfolgung jeglicher, auch geringfügiger Straftaten zu ermöglichen. Das gilt umso mehr als der EuGH den Abruf von Vorratsdaten durch Ermittlungsbehörden nunmehr nur noch in Ausnahmefällen unter einen Richtervorbehalt stellt. Es erscheint zudem fraglich, ob die im Urteil vorausgesetzte 'strikte Trennung' zwischen IP-Adressen und sonstigen Nutzerdaten tatsächlich umsetzbar ist“.
Anders sieht dies der Deutsche Richterbund. Nach Einschätzung des Deutschen Richterbundes ist die Vorratsdatenspeicherung in Deutschland verfassungs- und europarechtskonform umsetzbar. Das hatte der Vorsitzende des Verbandes, Oberstaatsanwalt Christoph Frank, erklärt. „Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom März 2010 liegt die Blaupause für eine Neuregelung seit langem auf dem Tisch“, so Frank. „Auch die jüngsten Anforderungen des Europäischen Gerichtshofes gehen nicht über die des Verfassungsgerichtes hinaus.“
Ob die Vorratsdatenspeicherung neu geregelt werde, sei somit eine rein politische Entscheidung. Frank forderte die Große Koalition auf, die Blockade endlich zu lösen. „Die Ermittlungsbehörden brauchen dieses Instrument. In nahezu allen Bereichen schwerer Kriminalität sind Telefon- und Internetverbindungsdaten ein wesentlicher, oft der einzige Ansatz für Ermittlungen.“
Es bleibt nun abzuwarten, wie die Entscheidung Quick Freeze oder VDS nun weitergeht.