archy13 - stock.adobe.com
Europa treibt Bestrebungen für eigenes Chip-Ökosystem voran
Die Pandemie brachte die globale Logistik durcheinander. Nun will nicht nur Deutschland eine eigene konkurrenzfähige Halbleiterfertigung einrichten und Abhängigkeiten eliminieren.
Die Covid-19-Pandemie war vor mehr als drei Jahren das Sandkorn, das ein scheinbar gut geöltes Getriebe aus Lieferketten zum Innehalten brachte. Der beständige Strom an Rohstoffen, Vor- und Halbfabrikaten, Fertigungskomponenten und Fertigwaren aus Asien ebbte innerhalb einer sehr kurzen Zeitspanne ab. Und Europas fahrende LKW-Lagerbestände waren noch schneller aufgebraucht. Hart getroffen wurde die deutsche Automobilindustrie, der mit Abstand bedeutendste Industriezweig in Deutschland, der im Jahr 2021 einen Umsatz von rund 411 Milliarden Euro erwirtschaftete. Häufig mangelte es an Standard-ICs für wenige Cent, die die Auslieferung von hochwertigen Endprodukten verhinderte.
Abhängigkeiten zurückführen, Risiken minimieren
Die politische Konsequenz aus dieser betrüblichen globalen Abhängigkeit: Europa muss autark werden, um dem Pulverfass Welthandel nicht wie in bisherigem Maße ausgesetzt zu sein. Als kritische Komponente war sehr schnell die Versorgung mit robusten Chips, Leistungshalbleitern und in einem wesentlich geringeren Umfang auch die hochwertigenHalbleiter mit Strukturbreiten unter sieben Nanometer ausgemacht. Der Blick in diverse Prognosemodelle zeigt, dass sich der Bedarf an Chips von 2022 bis 2030 verdoppeln wird: Autonome Fahrzeuge, Künstliche Intelligenz (KI) und Virtual Reality, Medizintechnik, Digitalisierung von Kommunen und Ausbildung sind zukünftige Wachstumsfelder, die Rechenleistung, Miniaturisierung, ausgeklügelte Sensoren und vor allem viele Chips benötigen.
Der politische Befund war schnell erstellt und so skizzierte die Präsidentin der EU-Kommission Frau von der Leyen in ihrer Rede zur Lage der Nation 2021 ihre Vision für die europäische Chip-Strategie: Eine in Europa stationierte Halbleiterfertigung ist unabdingbar, um nie wieder der „globalen Abhängigkeit der Halbleiter-Wertschöpfungskette“ausgesetzt zu sein. Das heißt natürlich nicht, dass die Ansiedlung von Chip-Fabriken und Auftragsfertigern nur Europa versorgen sollen.
Die digitale Zukunft Europas gestalten
„Das europäische Chip-Gesetz wird Europas Wettbewerbsfähigkeit und Resilienz in puncto Halbleitertechnologien … stärken“ und „Europas technologische Führungsrolle“ ausbauen, lautet das erste Credo auf der offiziellen EC-Webseite zur digitalen Strategie.
Mit einem politikgesteuerten Subventionstopf von 43 Milliarden Euro wie auch Geldmitteln aus der Privatwirtschaft soll in Europa nicht nur eine Halbleiterfertigung gefördert, sondern gleich ein europäisches Chip-Ökosystem auf den Weg gebracht werden.
Die politisch-visionäre Anspruchshaltung geht insofern von einem Problem aus, das mit ein wenig finanziellem Anschub eine sich selbst befeuernde Aufbruchstimmung für subventionsgetriebene Chiphersteller, Start-ups, individuelle Talente, die EU-Forschung und überhaupt gleichgesinnte Partner und Länder initiiert, damit es in Zukunft an keinem Chip mehr mangelt.
Und damit auch gleich klar ist, dass es hier nicht um Kleinkram von ein paar Milliarden Euro geht, erfolgt, bevor noch ein Euro ausgegeben ist, die Klarstellung, dass Europa bei seiner Investition nicht nur wie bisher sechs bis zehn Prozent, sondern 20 Prozent Marktanteil zustehen.
Chips en masse, erscheinen bei solchen Ankündigungen eher als Abfallprodukt, Geld verdienen, unbeackerte Märkte erobern als das wichtigere Ziel. Da draußen wartet schon heute ein globaler Markt mit einem Umsatzvolumen von etwa 520 Milliarden Euro, der sich bis 2030 verdoppeln soll. Gewartet hat dieser Markt zwar noch nie, aber anders als der Siemens-Konzern, der 1987 mit dem 4-Megabit Speicherchip Furore machte und den Kraftakt dann trotzdem nicht fortsetzen wollte, steht nun fast ganz Europa hinter der Neuauflage einer transnationalen Aufholjagd bei der Chip-Produktion und -Forschung.
Große Pläne, lange Entscheidungsprozesse
Schon vor über einem Jahr, im Februar 2022, verabschiedet die Europäische Kommission den European Chip Act, die europäische Chip-Verordnung. Öffentlich zu bemerken war in der Zwischenzeit wenig.
Seit Anfang 2023 überschlugen sich jedoch geradezu die Meldungen. Um nur einige zu erwähnen: wann legt Intel los, Intel will mehr Geld, Leibniz-Institut zweifelt an Intel-Ansiedlung, Weltwirtschaft lahmt, globale Halbleiterproduktion schrumpft, Elon Musk schockt Chiphersteller mit einem Elektroantrieb, der mit einem Viertel der bislang benötigten Siliziumkarbid-Chips auskommt, Auftragsfertiger TSMC ist hin- und hergerissen: Mal will man und dann fallen den Geschäftsführern die exorbitanten Nebenkosten für Energie, Baumaterial, Löhne und wahrscheinlich einiges andere mehr ein. Hinter den Kulissen geht es also rund. Vieles scheint ungeklärt und die Unterhändler dürften sich mit und auch ohne KI-Einsatz die Köpfe heiß reden, um die Verhandlungspositionen nicht zu verhärten.
Seit dem 19. April 2023, dem Tag, an dem das Europaparlament und die Mitgliedsstaaten der Vorlage zustimmten, könnte nun Bewegung in die Angelegenheit kommen. Jetzt ist aus der Kommissions-Vorlage ein Gesetz geworden, das Sicherheit in die bislang halbamtlichen Vorverhandlungen bringt.
Infineon hatte schon den Segen aus Berlin, nicht jedoch von der EU, dass es mit einer Milliarde Euro für das Werk in Dresden rechnen kann. Angeblich wartet TSMC nur auf die nächsten Quartalszahlen, um einen Entscheid für den lohnkostenintensiven Standort herbeizuführen. Und eine positive Entscheidung könnte dann auch Bundesfinanzminister Lindner herbeiführen, den zwischenzeitlich die Sinnfrage quälte, ob Deutschland tatsächlich 10 Milliarden Euro für die beiden Magdeburger Chipfabriken von Intel bezuschussen sollte. Die Schuldenbremse sitzt ihm bekanntlich im Nacken. Und schlussendlich kann dann auch Binnenmarktkommissar Thierry Breton nur wenige Jahre später, so etwa im Jahr 2027, nicht nur die Versorgung der EU mit Chips sicherstellen, sondern gleich die restliche Welt mit Spitzenchips beliefern.
Kritische Stimmen sind nicht verstummt
Kritik kommt trotzdem von der Unternehmerseite. Wichtige Institutionen wie der BDI (Bundesverband der Deutschen Industrie) und der Branchenverband Bitkom kritisieren einmal mehr, dass von der Erkenntnis eines Chip-Engpasses bis zum Subventionsbeschluss mal locker zweieinhalb Jahre verstrichen sind. Der viel zitierte 43 Milliarden Fond wird als politische Schönfärberei entlarvt, da es sich um Gelder aus mehreren älteren Fördervorhaben handelt, die zusammengelegt wurden und mit nur 3,3 Milliarden Euro frischen Geldes ein wenig aufgeblasen wurden. Sollten die Behörden in Europa sich nicht flexibel genug zeigen, dann seien wichtige Zulieferer wie die Hersteller von Chip-Maschinen und Verpackungstechnik von jeder Förderung ausgeschlossen. Der Subventionstopf sei zu eng auf marktführende Unternehmen zugeschnitten.
Dem hat die EU-Kommission schon widersprochen und klargestellt, dass auch innovative Designs von KMUs mit Zuschüssen bis zu 90 Prozent rechnen können. Staatshilfen sollen ebenfalls fließen, wenn mit Energie und Wasser sparsam umgegangen wird. Nicht zuletzt gibt es eine Ausnahme von der regelkonformen Subventionierung: Fabriken mit modernstem Equipment, die sich mit dem Titel „first-of-a-kind facility“ (übersetzt: die erste Einrichtung ihrer Art) schmücken und sich in Europa ansiedeln, dürfen von den nationalen Parlamenten mit individuell vereinbarten Voll-Zuschüssen für ihre Finanzierungslücken rechnen.
Ob das groß angelegte europäische Chip-Projekt die gewünschte Wirkung zeigt, ist für viele Jahre nicht absehbar. Zuviel hat sich in den letzten drei Jahren auf der Welt geändert. Im zweiten Teil unseres Status-Quo-Berichts zu den europäischen Chip-Bestrebungen wirft Computerweekly.de deshalb einen globaleren Blick auf die Chip-Welt, der einige Hiobsbotschaften über die digitalisierte Zukunft Europas bereithält.
Die Autoren sind für den Inhalt und die Richtigkeit ihrer Beiträge selbst verantwortlich. Die dargelegten Meinungen geben die Ansichten der Autoren wieder.