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Wie Low-Code-Plattformen das Softwarechaos eindämmen
Low-Code-Plattformen machen es einfacher, Anwendungen zu erstellen. Die Anwendungen können aber auch die ungehinderte Ausbreitung von Apps stoppen.
Ein großes Mobilfunkunternehmen stürzte förmlich ins Chaos. Der Grund: zu viele intern entwickelte Anwendungen, keine etablierten Prozesse, keine Möglichkeit, die App-Nutzung zu verfolgen – und kein Ende der Kundenbeschwerden. Das Problem wurde nicht mit einem professionellen Entwickler-Tool oder mit geschulten Softwareentwicklern gelöst. Die IT-Lösung, die die Probleme in den Griff bekam, wurde mit Hilfe einer Low-Code-Plattform von einem vierköpfigen Team entwickelt. Die Lösung unterstützt mittlerweile 45.000 Mitarbeiter.
Zugegeben, dieses Szenario mag wie ein Märchen erscheinen. Es ist aber Realität. Tatsächlich gibt es überall in großen Unternehmen Problemlagen mit einem ähnlich Ende – gelöst mit Hilfe von Low-Code-Plattformen und DevOps-Prinzipien. Die Ironie: Einfach zu bedienende Low-Code-Plattformen können das Chaos mit der unkontrollierten App-Flut noch verstärken. Doch es gilt auch: Auf CIOs und IT-Abteilungen, die nicht bereit sind, Low-Code-Plattformen zu nutzen, kommen harte Zeiten zu.
Die Ausgangssituation ist: Unternehmen haben im Zuge der App-Euphorie für ihre Mitarbeiter zu viele Anwendungen erstellt. Ein durchschnittliches Fortune-500-Unternehmen hat mehr als 18.000 Apps im Umlauf, und eine aktuelle 451 Research-Studie ergab, dass fast die Hälfte der großen Unternehmen allein im letzten Jahr zwischen zehn und 29 Mobile Apps für Mitarbeiter entwickelt hat.
Insgesamt ist die Nutzung von Unternehmensanwendungen und Produktivitätswerkzeugen laut Flurry Analytics um 125 Prozent gestiegen. Das ist anscheinend zu viel des Guten: Eine Studie von Harmon.ie hat ergeben, dass Unternehmensnutzer zunehmend App-müde sind. Dem Bericht zufolge muss der durchschnittliche Mitarbeiter jeden Tag 9,4 Apps verwenden, nur um seine Arbeit zu erledigen. 74 Prozent haben fünf Apps gleichzeitig geöffnet – wissenschaftliche Untersuchungen zum menschlichen Multitasking zeigen, dass so etwas die Produktivität verringert.
Und es gibt noch andere Warnungen. Das eben erwähnte Unternehmen für Mobilfunkkommunikation entschied sich dafür, die App-Entwicklung mit Hilfe von Low-Code-Plattformen in die Fachabteilungen zu verlagern. Das sieht sehr nach modernem BizDevOps aus, das immer noch weit entfernt von der Mainstream-IT ist. Außerdem dürfte die Explosion von Low-Code-Plattformen und APIs zur Folge haben, dass die Nachfrage nach traditioneller Softwareentwicklung abnimmt. Die weltweite Rekrutierungsfirma Harvey Nash fand in ihrer Technologieumfrage 2017 heraus: 47 Prozent der Befragten glauben, dass die Entwicklung von Individualsoftware rückläufig ist. Zehn Prozent sind sogar überzeugt, dass sie ganz verschwinden wird.
All dies stellt IT-Abteilungen vor eine komplexe Herausforderung: Wie kann man das App-Chaos in den Griff bekommen, wenn man neue Entwicklungs-Plattformen nutzt und neue Arten von Entwicklern einsetzt?
„Wir werden in den Unternehmen zunehmend Mitarbeiter sehen, die wir künftig vielleicht als Business Developer oder Power User bezeichnen. Diese neue Art von Mitarbeitern wird in Zukunft das Look and Feel von Anwendungen definieren und bestimmen, wie Kunden diese nutzen“, sagt Jeffrey Hammond, Principal Analyst bei Forrester Research. „Unter diesen Bedingungen wird es eine große Herausforderung sein, wie wir die Entwicklung von Anwendungen im Laufe der Zeit organisieren und strukturieren.“
Ein Déjà-vu
Leser im IT-Umfeld haben vielleicht das Gefühl, dass es eine App-Schwemme schon früher gegeben hat – und das stimmt tatsächlich. Sie geht auf die Tage von Lotus Notes in den 80er Jahren zurück. Damals waren die IT-Abteilungen Urheber des Übels. Doch diesmal stellen sich die Dinge etwas anders dar: IT-Abteilungen sind nämlich nur zum Teil dafür verantwortlich, dass es so viele Apps gibt – heute tut auch die Geschäftsseite ihren Teil dazu. „Im Moment bietet die IT für die Business-Seite oft keine passenden Umgebungen oder gute Optionen. Und das veranlasst die Leute, sich an andere zu wenden, die ihre Bedürfnisse besser befriedigen“, erklärt Hammond.
„Wenn Sie eine typische IT-Abteilung fragen würden, ob sie für die Mitarbeiter eine Hilfe ist, wäre die Antwort ‚ja‘“, sagt 451 Research Senior Analyst Raúl Castañón-Martínez. Laut einer aktuellen Befragung des Analystenhauses unter IT-Entscheidern gaben 37 Prozent an, dass die Vereinfachung der „manuellen und papierbasierten Unternehmensabläufe“ für die Mitarbeiter oberste Priorität hat. Aber gute Absichten reichen nicht aus und es gibt bei den Anwendern Gegenreaktionen. Benutzer beschweren sich zunehmend, dass sie mit den Apps, die sie haben, wenig bis nichts erreichen können. „Organisationen beginnen sich deshalb immer mehr zu fragen, ob es sich lohnt, in die Entwicklung mobiler Anwendungen zu investieren. Vor allem, wenn viele Mitarbeiter sie nicht nutzen“, sagt Castañón-Martínez.
In dem Bemühen, die Softwareentwicklung zu rationalisieren, die unkontrollierte App-Ausbreitung zu reduzieren und leistungsfähigere Anwendungen zu entwickeln, setzt der Finanzdienstleister The Options Clearing (OCC) auf den Low-Code-Plattform-Anbieter Appian. Mit dessen Hilfe hofft das Unternehmen Ordnung ins Chaos zu bringen.
Der Druck war hierfür besonders groß: Aufgrund der sich verändernden Marktbedingungen mussten die Verantwortlichen schnell reagieren. Aber es waren zu wenig Softwareentwickler vorhanden, und auch die finanziellen Ressourcen für zusätzliche Hardware waren knapp, sagt Denise Knabjian, Vizepräsidentin für Prozessinnovation bei OCC. Ein weiteres Problem: Auch die Zahl der internen Anwendungen nahm rasant zu.
Mit der Appian-Plattform haben sich die Probleme weitgehend in Luft aufgelöst. Durch die Nutzung der Low-Code-Plattform hat sich die interne App-Entwicklung verlangsamt. Das Unternehmen musste nicht mehr nach Entwicklern mit speziellen Fähigkeiten suchen. Zudem ist es OCC jetzt möglich, das Wasserfallmodell hinter sich zu lassen und in einem agileren DevOps-Stil zu entwickeln. „Nur eine Plattform statt vieler zu haben, das hat den größten Unterschied gemacht. Es ist eine wirklich schnelle Technologie“, sagt Knabjian.
Unternehmensbedürfnisse stehen an erster Stelle
Das angesprochene Mobilfunkunternehmen war mit so vielen Problemen konfrontiert, dass es die Idee der Low-Code-Plattform noch weiter ausbaute. Über die Nutzung der Prozessautomatisierungsplattform K2 arbeitet eine vierköpfige Gruppe täglich mit Geschäftsanwendern zusammen. Low-Cost-Entwicklung macht dabei einen dramatischen Unterschied. Die Schatten-IT-Gruppe arbeitet nach dem klassischen BizDevOps-Prinzip. Die Anwendungen werden erst nach einer gründlichen Überprüfung der Geschäftsanforderungen unter Heranziehung der Roadmap und Ressourcen des K2-Teams erstellt.
Gibt es dafür keinen Geschäftswert, wird die App nicht erstellt. Jeder Teil des Prozesses wurde gestrafft. Dazu gehört auch die Art und Weise, wie Wünsche nach Apps gestellt werden: Der Wunsch nach offensichtlich wenig nützlichen Apps wird von vornherein ignoriert, da jede potenzielle Entwicklungsaufgabe ein Meeting erfordert, um sicherzustellen, dass alle Aspekte betrachtet und Fragen beantwortet werden. Das Team unterstützt nun konsequent die geschäftliche Seite – und das Chaos ist damit so gut wie verschwunden. „Wir sind sehr busy“, sagt der Gruppenleiter, der ungenannt bleiben möchte. Nun wird es Zeit, alle Dinge auf den Prüfstand zu stellen und Kompetenzzentren zu schaffen und das miteinander zu teilen, was bereits funktioniert: „Wir sind endlich in der Lage, wirklich zusammenzuarbeiten und uns gegenseitig zu helfen.“
Forrester Analyst Hammond nennt das, was bei dem Mobilfunkunternehmen ablief, „Entwicklungsdezentralisierung“. Dies wird auch in Zukunft so sein. „Immer mehr Unternehmen beginnen damit, technische Fähigkeiten und Entwicklungs-Know-how innerhalb einer Business-Einheit einzubetten, aber außerhalb der IT“, erklärt er. Viele der Mitarbeiter in den Business-Einheiten haben kein traditionelles Entwicklungs-Know-how. Die Verfügbarkeit von Low-Code-Plattformen treibt diese Entwicklung voran. Und nicht nur das: Sogar einige Hardcore-Programmierer verwenden eine Low-Code-Plattform, damit sie komplexe Aufgaben flott lösen und schneller arbeiten können. Das Endergebnis: „Das vergrößert die Anzahl der Leute, die Code schreiben können.“
Wie lässt sich die Ausbreitung von Apps stoppen?
Für die meisten Unternehmen ist die App-Entwicklung außer Kontrolle geraten. Wir haben Experten, Anwender und Anbieter um ihre besten Ratschläge zur Eindämmung der App-Flut gebeten. Hier die komprimierten Ergebnisse:
- Finden Sie heraus, wer Ihre Anwendungen verwendet (und wer nicht).
- Stellen Sie eine Richtlinie für Anwendungen auf, die stillgelegt werden können.
- Werden Apps nicht verwendet, versuchen Sie offen und ehrlich einzuschätzen, warum dies der Fall ist.
- Seien Sie flexibel. Technologien und Prioritäten ändern sich im Lauf der Zeit, daher müssen sich auch Ihre Pläne und Richtlinien immer wieder ändern.
- Wenn Sie eine Anwendung erstellen, die eine bereits existente ersetzt: Seien Sie diesmal schlauer und vorsichtiger bei den Features, die Sie integrieren. Vermeiden Sie ein Design, das früher oder später in Richtung Obsoleszenz geht.
- Denken Sie an die Zukunft. Egal ob künstliche Intelligenz (KI), Robotic Process Automation (RPA) oder Machine Learning – je früher Sie planen, neue Technologien einzubinden, desto einfacher wird es künftig sein.
- Seien Sie skrupellos. Experten sagen, dass nur weniger als fünf Prozent der Unternehmensanwendungen jedes Jahr stillgelegt werden. Es sollte aber ein viel höherer Prozentsatz von ihnen stillgelegt werden.
Warum weniger mehr ist
Der Gründer und CEO von Agiloft, Colin Earl, sagt: „Maßgeschneiderte Software ist rückläufig.“ Er verweist außerdem darauf: „BizDevOps versucht, das Kernproblem der heutigen IT zu lösen – nämlich die Schnelligkeit und Reaktionsfähigkeit der IT auf die Bedürfnisse der Geschäftsanwender zu steigern.“ Und weiter: „Aber ich glaube nicht, dass das auf lange Sicht funktionieren wird. Ich vergleiche das immer mit der Entscheidung, dass Sie automatisieren wollen, wie Sie gasbetriebene Lichter einschalten. Sie können dabei natürlich viel erreichen – aber am Ende werden Sie gasbetriebenes Licht durch elektrisches Licht ersetzen.“
Die Gaslampen sind in diesem Fall eine Metapher für die individuelle Codierung. „Solange Sie benutzerdefinierten Code haben, wird die Bearbeitungszeit nie die Bedürfnisse des Geschäftsbenutzers erfüllen“, sagt Earl. „Das Kernproblem ist zu hartnäckig.“
Beim Agiloft-Kunden CSF International, einem Anbieter von E-Payment-Software, ermöglicht es die GUI-basierte Low-Code-Plattform lediglich zwei Personen, drei Niederlassungen weltweit zu unterstützen – ohne zusätzliche Hilfe von Cloud-Produkten. Und es gibt keinen App-Wildwuchs, sagt Philip LeMaster, IT Operations Manager bei CSF. „Vor Agiloft war hier alles nur ein Chaos“, merkt er an. „Jetzt kommen die Leute zu mir und bitten mich, etwas hinzuzufügen – und es dauert fünf Minuten.“
Timing ist heute alles. „Solange die IT nicht versteht, dass es nicht sechs Monate dauern kann, dem Business zu geben, was es will, wird sich nichts verbessern“, sagt Earl. „Und es muss weniger und bessere interne Anwendungen geben.“ Business-Anwender werden nicht warten wollen. Das ist der Grund, warum er glaubt, dass Low-Code-Plattformen weiter wachsen werden.
Wir sind erschöpft von der App-Schwemme
„There’s an app for that.“
In den USA hat sich Apples bekannter Slogan für das iPhone als geflügeltes Wort etabliert. Doch inzwischen hat sich die positive Konnotation dieses Spruches eher ins Negative gewandelt. Das Axiom gilt heute vor allem im Unternehmensbereich. Gerade dort werden die Mitarbeiter mit Apps, die ihnen eigentlich das Leben erleichtern sollen, schier überschwemmt. Für viele stellt sich die Frage, ob ihnen Apps das Leben tatsächlich leichter machen.
Eine Studie hat sich mit diesem Thema beschäftigt. Harmon.ie befragte fast 900 Wissensarbeiter und erstellte eine Momentaufnahme ihrer Arbeitsgewohnheiten. Die Ergebnisse bestätigen, dass Apps zwar manchmal helfen. Sie verkomplizieren aber auch oft den Arbeitstag und müllen ihn sogar zu – zumindest in einigen Fällen.
Harmon.ie teilte den Umfrageteilnehmern mit, dass der durchschnittliche Mitarbeiter zwischen 20 und 30 Apps pro Woche für die Arbeit nutzt und fragte sie, was sie davon halten. Die Antworten reichten von „das sind zu viele Apps“ (41 Prozent) über „das ist für viele Menschen verwirrend“ (27 Prozent) bis hin zu „die nutzen sie wahrscheinlich auf dem Weg der Arbeit“ (21 Prozent). Insgesamt gaben 48 Prozent an, dass sie Apps „nützlich“ fanden. Aber die gelieferten Informationen seien „zu unzusammenhängend“.
Wie werden Unternehmensanwendungen genutzt? Der Umfrage zufolge überprüfen 50 Prozent der Befragten fünfmal pro Stunde den E-Mail-Eingang. Etwa 35 Prozent müssen mehrere Anwendungen öffnen und diese nutzen, um ihre Arbeit zu erledigen. 30 Prozent sind exzessive Multitasker: Sie verwenden zwischen zehn und 14 Apps pro Tag – oft gleichzeitig. Die Hälfte der Befragten nutzt Anwendungen wie Dropbox und OneNote auf eigene Faust, die ihnen von der IT-Abteilung nicht zur Verfügung gestellt wurden.
Diese Apps sind auch mobil: 61 Prozent der Befragten gaben an, dass sie zwischen einer und fünf berufliche Apps auf ihrem Smartphone haben, während 20 Prozent sechs bis zehn dieser Apps hatten. Und eher weniger überraschend ist: Die Unternehmensgruppe, die mit durchschnittlich 10,43 die höchste Anzahl an Apps nutzt, ist die IT.
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