Peitscheneffekt (Bullwhip-Effekt)
Der Peitscheneffekt (auch Bullwhip-Effekt) beschreibt Abstimmungs- und Koordinationsprobleme in mehrstufigen Lieferketten. Er zeigt, wie kleine Nachfrageschwankungen auf der Mikroebene des Einzelhandels zu immer größeren Nachfrageschwankungen auf der Makroebene führen – also beim Großhandel, Vertrieb, Hersteller und Rohstofflieferanten.
Der Name verweist auf den gleichnamigen Effekt in der Physik: Beim Schlagen einer Peitsche verstärkt sich eine relativ kleine Bewegung des Handgelenks zunehmend in einem Wellenmuster zu einer ausladenden Schwingung. Im Supply-Chain-Umfeld wurde das Phänomen erstmals von Forrester Research in einem Simulationsmodell beschrieben, das den Zusammenhang zwischen Bestellungen und Lagerbeständen erforschte.
Als Ursache für das Aufschaukeln der Nachfrage gelten dynamische Prozesse: Im Supply Chain Management (SCM) haben Kunden, Lieferanten, Hersteller und Verkäufer nur ein eingeschränktes Bild von der Nachfrage und haben nur über einen Teil der Lieferkette direkte Kontrolle. Das Problem: Jeder Akteur beeinflusst die gesamte Lieferkette mit seinen Prognosefehlern, indem er zu viel oder zu wenig bestellt. Eine Änderung an einem Glied der Lieferkette kann tiefgreifende Auswirkungen auf den Rest der Lieferkette haben. Je komplexer die Lieferkette ist, desto mehr potenzielle Verursacher und Gründe für den Peitscheneffekt gibt es.
Ein vereinfachtes Beispiel für den Peitscheneffekt
Der Peitscheneffekt entsteht, wenn Einzelhändler stark auf eine erhöhte Nachfrage reagieren – was die Nachfrageerwartung insgesamt erhöht. Dies führt zu einem Dominoeffekt entlang der Supply Chain.
Angenommen, ein Einzelhändler hält 100 Jeans auf Lager. Wenn er normalerweise 20 Jeans pro Tag verkauft, ist das die Menge, die er üblicherweise beim Großhändler nachbestellt. Verkauft der Einzelhändler aber plötzlich 70 Jeans, geht er davon aus, dass die Kunden künftig mehr davon kaufen werden. Er reagiert dann vielleicht mit der Bestellung von 100 Jeans, um diese prognostizierte höhere Nachfrage zu decken.
Sein Lieferant wiederum wird dann mit der Bestellung von Hosen beim Hersteller reagieren, um sicherzustellen, dass er genug auf Vorrat hat. Dies hat wiederum Auswirkungen auf den Hersteller: Um Lieferengpässen vorzubeugen, wird er die Produktion erhöhen und in Zukunft 250 Jeans mehr produzieren.
Am Ende wurde die kurzfristig gestiegene Nachfrage in der Lieferkette von 100 Jeans auf Kundenebene auf 250 beim Produzenten gesteigert.
Dieses Beispiel ist natürlich stark vereinfacht. Es vermittelt aber das Prinzip der exponentiell zunehmenden Fehlkalkulation, die durch Aktionen und Reaktionen auf Veränderungen entlang der Lieferkette. Auch ein Sinken der Nachfrage von Seiten der Kunden kann zum Peitscheneffekt führen (was bei Ungenauigkeit zu Engpässen führt) und kann auch von anderen Gliedern entlang der Lieferkette verursacht werden.
Ursachen des Peitscheneffekts
Fehlende Koordination zwischen einzelnen Teilen der Lieferkette und eine ungenügende Übersicht über die Nachfrage sind entscheidende Gründe für den Peitscheneffekt. Unternehmen stehen vor der Herausforderung vorherzusagen, wie viele Produkte Kunden tatsächlich wollen, ohne wirklich alle dafür notwendigen Informationen über die zugehörigen komplexen Faktoren zu haben.
Auf jeder Stufe der Lieferkette gibt es Schwankungen und Störungen, die wiederum die unzähligen einzelnen Bestellungen von Lieferanten beeinflussen. Veränderungen in der Nachfrage beeinflussen direkt alle anderen Faktoren entlang der Lieferkette, einschließlich der Lagerbestände. Der Peitscheneffekt kann jedoch auch in relativ stabilen Märkten auftreten, in denen die Nachfrage konstant ist.
Die Vorhersage der Nachfrage war schon immer ein schwieriges Unterfangen. Die zunehmende Komplexität der heutigen globalen Lieferketten verschärft diese Problematik – ebenso wie die zunehmende Präferenz der Verbraucher für Omnichannel und E-Commerce. Einige der häufigsten Zusammenhänge, durch die ein Peitschenhieb entstehen kann sind:
- Lieferschwierigkeiten wie zum Beispiel Produktionsverzögerungen
- Fehlerhafte Entscheidungen von Akteuren entlang der gesamten Lieferkette, zum Beispiel beim Kundenservice oder Versand
- Fehlende Kommunikation und Abstimmung zwischen den einzelnen Akteuren in der Lieferkette
- Über- oder Unterreaktion auf Nachfrageerwartungen, also zu niedrige oder zu hohe Bestellmengen
- Händler, oft Einzelhändler, die warten, bis sich Bestellungen aufhäufen, bevor sie die Order an ihre Lieferanten weiterleiten – eine Praxis, die als „Order Batching“ bezeichnet wird
- Rabatte, Kostenänderungen und andere Preisschwankungen, durch die Kunden vom normalen Kaufverhalten abweichen
- Ungenaue Prognosen durch zu starke Berücksichtigung der Nachfrage in der Vergangenheit für die Vorhersage der zukünftigen Nachfrage
Auswirkungen auf das Supply Chain Management
Der Peitscheneffekt kann für alle Unternehmen in der Lieferkette kostspielig werden. Überschüsse können zu Verschwendung führen, während zu knappe Bestände Kunden frustrieren und vergraulen und zu einem finanziellen Verlust führen können.
Die meisten Akteure in der Supply Chain verfügen deshalb über einen Sicherheitsbestand („Safety Stock”) oder Reservebestand als Puffer im Falle von Nachfrageschwankungen. Der Sicherheitsbestand ist zwar keine Lösung für den Peitscheneffekt selbst, er mindert aber den Effekt auf das Angebot an den Endverbraucher, da Bestellungen so lange ausgeführt werden können, bis vom Produzenten mehr Waren kommen.
Lösungen für den Peitscheneffekt
Um den Peitscheneffekt zu reduzieren, müssen vor allem Informationen besser ausgetauscht werden. Dafür müssen die Kommunikation zwischen den Partnern der Lieferkette und die Prognosewerkzeuge verbessert werden.
Einige empfohlene Maßnahmen sind:
- Fördern Sie Kommunikation und Zusammenarbeit in der Lieferkette: Eine bessere Abstimmung zu kritischen Punkten der Lieferkette ist erforderlich – und zwar sowohl innerhalb des Unternehmens als auch zwischen Kunden, Lieferanten, Distributoren, Produzenten und den übrigen Partnern. Besonders wichtig ist ein besseres Verständnis der Kundenbedürfnisse. Wenn Lieferanten die Kundenbedürfnisse besser verstehen, trägt dies dazu bei, übermäßige Lagerbestände zu reduzieren. Lieferanten- und Projektportale, Electronic Data Interchange (EDI) und andere Funktionen der Supply Chain Management Software können das Kundenverständnis grundsätzlich unterstützen.
- Verwenden Sie bessere Prognose- und Visibility-Software: Mittlerweile gibt es ein breites Angebot an Softwarelösungen, die Prognosen und einen besseren Überblick über das Geschehen in der Lieferkette erlauben. Zu diesen gehören unter anderem Bedarfserfassungssoftware, Prognosesoftware, Inventarmanagementsoftware und Tools, die Analytik (insbesondere Predictive Analytics), Künstliche Intelligenz (KI) und Internet of Things Anwendungen (IoT).
- Nachfrageorientiertes Supply Chain Management: Ein nachfrageorientierter Ansatz basiert auf einem System koordinierter Technologien und Prozesse. Mit diesem lassen sich bessere Einblicke in das Geschehen in der Lieferkette gewinnen und es kann im Bedarfsfall schnell auf Änderungen reagiert werden. Der Ansatz vereint viele der oben genannten Konzepte Insbesondere die Zusammenarbeit und die Kommunikation sowie neue Technologien ermöglichen im Rahmen eines koordinierten ganzheitlichen Ansatzes eine bessere Transparenz der Lieferkette.
Letztlich muss sich jedes Unternehmen bei seiner Strategie für einen Push- oder Pull-Ansatz entscheiden: ein Push-Ansatz wird für stabile Produkte verwendet, ein Pull-Ansatz hingegen für solche mit einer eher unberechenbaren Nachfrage.
Der Peitscheneffekt beim Bierspiel
Das in den 1960er Jahren an der MIT Sloan School of Management entwickelte Bierspiel oder Bierverteilungsspiel ist ein Rollenspiel, bei dem die Spieler die Komplexität des Supply Chain Managements hautnah erleben. Es simuliert eine Bier-Supply-Chain bestehend aus Einzelhändler, Großhändler, Distributor und Brauer. Ziel ist es, die Betriebskosten so niedrig wie möglich zu halten und zu hohe und zu niedrige Lagerbestände zu vermeiden. Teams mit zu großem Lagerbestand werden bestraft.
Die Spieler können nur miteinander kommunizieren, indem sie Aufträge über die normalen Kanäle weiterleiten. Dies soll eine reale Lieferkette nachahmen. Sie müssen sich auch mit Beständen und Rückständen sowie deren Auswirkungen auf das Ergebnis befassen. Zu den Lernzielen gehören die Beherrschung der Komplexität des Systems als Ganzes, die richtigen Entscheidungen bei begrenzten Informationen zu treffen und die direkte Erfahrbarkeit des Peitscheneffekts in die Praxis.